Muße am Schnürchen

Juli 26th, 2010

Es hat etwas gespenstisches an sich: in kurvigen Bögen stehen kleine flackernde Lichter am Himmel über Beijing.

UFOs? Eingefrorene Sternschnuppen? Morse-Blitze? Ist man ein, zwei Häuserblocks entfernt und kennt man das Szenario noch nicht, dann kann man für diese Erscheinung einfach keine Erklärung finden.

Irgendwann jedoch steht man an einem zumeist größeren Platz, auf den die Lichtsäulen zuzulaufen scheinen. Und dann wird einem klar: Der Herr Li sitzt hier bei einem Feierabendbierchen und gibt mächtig Leine.

Wenn man sich die Zeit nimmt und sich neben ihn setzt, geschieht etwas ganz interessantes und recht seltenes: man entspannt.

Zunächst versucht der eigene Geist noch, dem ganzen mit Logik zu begegnen: Was machen erwachsene Menschen bitteschön abends um diese Zeit (21:00) auf der Straße mit Kinderspielzeug?

Und dann sieht man, wie Herr Li in geübtem Rhythmus kleine LEDs an die Schnur klemmt und die Leine weiter ausrollen lässt. Nur selten muss er aufstehen. Und dann meist nicht, um die Flugbahn seines Drachen zu korrigieren, sondern eher um jungen Flugaspiranten über die ersten Höhenmeter zu helfen. Denn das, so lernt man schnell durch Zusehen, will gelernt sein.

Im Laufe von zwei Stunden steigt die Zahl der modernen Schuppentiere über Peking stark an. Es ist ein windiger Abend und Herr Li und seine Schnurbrüder sind gut gerüstet – mit ihren umgehängten Spulen haben sie verblüffende Ähnlichkeit mit Hochsee-Anglern.

Diese äussert leichtgängigen Leinenwickler haben nichts mehr gemein mit dem um ein Stück Pappe gewickelten Bindfäden europäischer Kindertage. Die Schnur selbst übrigens auch nicht: Ein ultradünnes, erstaunlich belastbares Kunstfaserwerk , das kaum Gewicht auf die Waage bringt. So kann der Drachen deutlich höher steigen, als es in Hamburg oder Berlin erlaubt wäre. In Peking jedoch gibt es keine Hubschrauber und damit sind Entfernungen von mehreren hundert Metern kein Problem.

Auf die Frage, weshalb er hier sitze, sagt Herr Li, an einem solchen Abend müsse man selbstverständlich hier sein. Dies sei ein Drachen Abend quasi. Sprachs und nickt vielsagend. So aus dem Zusammenhang gerissen klingt das erst einmal etwas rätselhaft.

Was Herr Li hier meint, ist, dass man Xiang Qi (eine chinesische Form des Schach) an jedem anderen beliebigen Abend spielen kann.

Wenn es Wind gibt, es warm ist und zudem noch wenig Smog, dann ist Drachenzeit! Wäre ja auch dumm, derartige Verhältnisse nicht zu nutzen.

Als ich mich auf den Weg nach Hause mache, sitzt Herr Li noch immer unverdrossen auf seinem Klappstuhl und regelt munter den Drachenverkehr mit seinen Kollegen als gäbe es kein Morgen.

In der Zeit, in der ich neben ihm saß, hätte ich auch einen Film schauen können. Nur ist man nach einer DVD seltsamerweise niemals so entspannt und geerdet wie nach einer Drachenpartie mit Herrn Li. Am chinesischen Bier liegt das nicht. Vielmehr an der bodenständigen und ruhigen Stimmung. Weniger ist manchmal mehr. Selbst hier im Lande Li.

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