Wir erinnern uns – als ich damals hier ankam, stellte ich fest, dass es kein Graffiti an den Wänden gab. Es dauerte eine Weile, dies zu bemerken – Irgendwie erschien alles so sauber. Klar, ich lief nur im Central Business District herum, aber dennoch – irgendetwas war ganz klar anders.
Es ist schon interessant, wie sehr man sich an das sprühende Sozialmauern zuhause gewöhnt. Es ist einfach überall und deshalb schon fast wieder unsichtbar.
“Jemand hat an den Eiffelturm gesprayed!” Und die weiteren Nachrichten: Die Erde dreht sich noch.
Lästig ist es aber schon. Und kein hippes Neuzeitwort wie “Street Art” kann die Tatsache verschleiern, dass die meisten Färbereien nicht nur hässlich sind – darüber liesse sich immerhin noch streiten, sondern dass sie oft illegal angebracht werden und fremdes Eigentum beschädigen oder zumindest die Lebensqualität mancher Menschen.
Und doch haben wir uns so sehr daran gewöhnt, die täglichen Farbmurmeleien zu ertragen, dass es ein beinahe verstörender Anblick ist, vor langen Mauern ohne tropfend Botschaften zu stehen. Und in Peking sind die Mauern so sauber wie am ersten Tag. Na, zumindest dachte ich das.
Es dauerte wieder einmal eine Weile, um festzustellen, dass der Mauern Weste nicht so weiss war wie es schien. Nur muss man hier nach etwas anderem suchen.
Sie sind klein, zumeist schwarz oder rot und sie tragen lange Zahlenreihen. Man findet sie auf Mauern, auf dem Boden und auf Kantsteinen. Das, was man hier erblickt sind jedoch keine hilflosen Schreie à la Hallo-Welt-ich-bin-hier-bitte-nehmt-mich-wahr-bitte-bitte, sondern entspringt viel mehr einem ausgeprägten Geschäftssinn. Immerhin sind wir in China.
Einen neuen Ausweis gefällig? Ein Hukou (offizielle Registrierung) oder eine sonstige Form der Identifizierung nötig? Da kann man aushelfen. Den Führerschein ‘verloren’? Die Trauer kann ein schnelles Ende haben! Wenn irgendetwas auf dem offiziellen Weg schwierig zu besorgen ist – die sprühende Leidenschaft schafft es im Nu heran. Sicher, man findet nicht gerade einen Kundendienst am anderen Ende der Telefonnummer und eine Quittung oder Rechnung für die Leistungen darf man auch nicht erwarten, aber dachte sich der geneigte Leser wahrscheinlich bereits.
Interessanterweise sind die meisten der Telefonnummern übermalt. Es scheint eine beträchtliche Armee der pinselnden Gerechtigkeit zu geben, die dafür verantwortlich zeichnet, Zahlen aus der Welt zu streichen. Lustig nur, dass sie tatsächlich nur die Ziffern überdecken. Man sollte denken, dass sie das gesamte fadenscheinige Angebot mit dem Mantel der Gleichgültigkeit überdecken. Warum die Nummer entfernen und mit dem verlockenden Angebot weiterhin die Menschen auf dumme Gedanken bringen?
Manchmal wird auch in der Tat alles übermalt. Oft jedoch nicht. Und selbst wenn, dann ist die Farbe ab und an so dünn, dass leicht alles darunter liegende durch scheint. Aber hey – wir haben es weggepinselt, also sagt uns nicht, wir würden unseren Job nicht erledigen!
Und so ist die Stadt auf eine seltsam poetische Weise gefüllt mit tausenden Aufrufen, die eigene Identität zu erneuern oder gar zu verändern.
Ab und an sieht man auch jemanden mit dem Fahrrad vorbeifahren, kleine Papierschnipsel auf den Gehweg streuend. Mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt schaut er dann in eine andere Richtung, während ein unablässiger Fluss kleiner Kärtchen aus seiner Tasche einen papierenen Pfad hinterlässt. Eine weitere Schicht halbseidener Angebote. Vergänglicher zwar, aber nicht weniger illegal.
Da meine Papiere derzeit glücklicherweise alle in Ordnung sind, habe ich für derartige Leistungen keinen Bedarf. Ich warte noch dringend auf das Angebot nach mehr Freizeit und Ausgeglichenheit. Das allerdings wäre in der Tat eine kostbare Leistung.
Schön, dass ich endlich weiss, was diese vielen Telefonnummern bedeuten! Allerdings habe ich bisher noch keine durchgestrichenen entdeckt. Vielleicht kommt’s auf die Strasse an; war etwas abgelegen.
P.s.: Danke übrigens für die unterhaltsamen und interessanten Beiträge! Auch wenn ich nun nicht mehr in Beijing lebe (Schade!), kann ich so wenigstens etwas am dortigen Leben teilhaben!