Hauptgericht als Beilage

Juli 6th, 2010

“So, wir nehmen dann einmal den gebratenen Dingensfisch, diese kleinen scharfen Hühnerteile im Flechtkorb, die grünen Bohnen mit mini-Gehacktem, die grünrosanen kalten Gurken und das Schweinefleisch mit Paprikastreifen. Spatz, was wolltest Du noch gleich dazu haben?”

Herr Meyer blickt von der Karte auf. Seine Frau ist jedoch mit Herrn Johnsons Gattin in eine wichtige Diskussion über das Für und Wider vom Kauf gefälschter Handtaschen vertieft. “Ach ja”, fällt es Herrn Meyer da wieder ein, “Wir bräuchten unbedingt noch diesen Kartoffelberg. Sie wissen schon, die Zwergpommes, quasi. Die sind einfach spitze”.

Der Ober, ein schwippverschwägerter Cousin zweiten Grades von Herrn Lis Tante mütterlicherseits schreibt ordentlich mit und blickt Herrn Meyer dann wieder aufmerksam an. Als dieser nichts weiter von sich gibt und ebenfalls nur abwartend zurück schaut, ist er merklich irritiert. Was er daraufhin von sich gibt, irritiert hingegen nicht nur Herrn Meyer, sondern auch Herrn Johnson. Es würde sogar die anwesenden Damen verwirren, wenn diese denn von ihrem Gespräch abliessen.

“Und als Hauptgericht?”

Herr Meyer ist hilflos. Wohl merkend, dass sich eine peinliche Pause aufzubauen beginnt, versucht er rasend schnell eine Lösung für ein Problem zu finden, das er überhaupt nicht versteht.

“Nun, äh, wir nehmen dann noch das Lamm mit Koriander.” Fast klang es eher fragend als bestimmt. Und als Herr Meyer nun wieder den Ober anschaut, ist seine Unsicherheit recht offensichtlich. Wieviele Gerichte soll er denn hier bestellen, damit das als vollwertige Mahlzeit durchgeht?

Der Ober ist seinerseits ebenfalls etwas hilflos, macht sich dann jedoch schließlich auf den Weg zur Küche. Er muss wieder einmal so eine seltsame Ausländer-Bestellung aufgeben…

Hier haben wir einer Szene beiwohnen dürfen, die sich so oder so ähnlich praktisch täglich in den unzähligen Restaurants dieses Landes ereignet. Unser kulinarisches Quartett aus dem Westen wird später beim Verlassen des Restaurants den Kopf darüber schütteln, dass man in China ständig derart viele Hauptgerichte bestellen muss, dass man sie unmöglich aufessen kann. Der abräumende Ober seinerseits schüttelt auch den Kopf. Und zwar darüber, dass Ausländer so unnachvollziehbar viele Beilagen bestellen, dafür jedoch eine Menge anderes vergessen.

Der Ratz-fatz-schmatz erfahre Leser ahnt es schon: im Lande Li ist wieder mal alles gänzlich anders als bei uns.

Im Westen haben sich die Menschen an eine ganz klare Futterordnung gewöhnt: Steak mit Pommes, Hühnchen mit Reis, Lammkeule mit Frühlingsgemüse, Red Snapper an Salat. Sehr schön nach Schema L wie lecker wird jeweils das tierische Produkt als Hauptspeise und das pflanzliche als Beilage bezeichnet. Ein Nebenprodukt sozusagen und damit nicht so wichtig. Und irgendwie ist das sowieso völlig egal, weil sich ja alles auf einem einzigen Teller tummelt, den ausser dem Besteller sonst niemand anfassen darf.

Vor dem Hauptgericht darf es noch eine kleine Vorspeise geben, und die kann dann so ziemlich alles sein: heiss, kalt, tierischer oder pflanzlicher Natur. Als Speise vor dem Hauptgang hat sie keine nähere Bezeichnung wie Beilagenvorspeise oder Haupt-Hors D’œvre. Und bestellt man keine Vorspeise, stört das niemanden.

In China wird erwartet, dass man sich das Essen zusammenzustellen vermag. Hier wird eben nicht bereits für den Gast alles auf eine Portion hin auf dem Teller arrangiert. Man bestellt jede Speisenkategorie einzeln. Und dann nicht nur einen Komplett-Teller für sich selbst, sondern immer für die Gruppe. Alle Teller kommen in die Mitte auf die Drehplatte und jeder isst von allem. Wenn es denn lecker ist. Und sinnvoll zusammen gestellt.

Es sollte eine Suppe dabei sein, um den Magen anzuwärmen. Etwas kalte Vorspeise (warme gibt es praktisch nicht) sollte da stehen. Und dann eine Reihe von Gerichten, mindestens zwei Fleischkategorien abdeckend. Gemüseteller sind ebenfalls zu ordern. Und dann, ja dann kommen wir zum Hauptgang. Dieser wird entweder durch Reis verkörpert, durch Baozi (Teigbeutel mit Füllung) oder durch Nudeln, also etwas mit Stärke. Der Westler kommt da schon einmal hoffnungslos mit den Begrifflichkeiten durcheinander. Eine kleine Schale blanker Reis – und das ist nun eine Hauptspeise? Da kommt man im Leben nicht drauf, wenn es nicht einer klar stellt.

Tee gehört auch wie selbst verständlich zum Essen. Oder Bier. Klare Wahl. Und bei beiden gilt ein Prinzip: Der Gastgeber (wer das ist, dazu kommen wir gleich) schenkt nach. Wobei genauestens darauf zu achten ist, dass bereits ab knapp über Glas/Becher-Hälfte akuter Nachfüll-Alarm besteht. Der geruhsame Europäer, der gerne sein Glas leert oder sich beim Tee darauf freut, dass dieser ab der Hälfte endlich Trinktemperatur erreicht hat, kommt dabei in Verzehrstress. Viel zu häufig und zu viel trinkt er dann oft, da das Glas ständig gut gefüllt ist.

Wer nachschenkt muss übrigens ausserdem darauf achten, wie er die Teekanne abstellt. Der Hahn darf auf keinen Gast zeigen. Das ist unhöflich, bringt Unglück und läutet das Ende der Welt ein. Komisch nur, dass sich diese Regel ausschliesslich auf die Gäste am eigenen Tisch bezieht. Niemanden stört es, zeigt der Hahn auf 120 andere Menschen im Raum.

Wer als Gastgeber nicht nachschenkt, ist knauserig und kümmert sich nicht um seine Gäste. Wahlweise fällt die Auszeichnung des Pudelkönigs auch einfach auf die jüngere Generation, die sich um die Älteren zu kümmern hat. Egal, wer da jetzt wen einlädt.

Und da sind wir auch schon beim Thema Gastgeber. Nehmen wir an, Herr und Frau Meyer haben Herrn und Frau Johnson angerufen, um sich mit ihnen zum Essen zu verabreden. Aus chinesischer Sicht ist damit die Sache klar: Herr Meyer muss das Restaurant buchen, das Essen auswählen (mindestens zwei Gerichte mehr, als man essen kann), über den Getränkenachschub wachen und letztlich die Rechnung begleichen. Die Aufgabe von Herrn Johnson wäre es, so zu tun, als würde er die Rechnung übernehmen wollen. Dann müsste sich kurz gestritten werden und Herr Meyer behielte die Oberhand, damit Herr Johnson “nächstes Mal lade ich ein” sagen kann.

Das sollte er dann auch. Und dann ginge alles wieder von vorn los. Mit oder ohne Hauptgerichte.

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