“Gott, dauert das immer so lange hier”?
“Ja, nervig, die haben einfach kein System”.
“Schlimm. Wer’s nicht kann, sollte einfach kein Restaurant aufmachen”.
“Absolut. Eine Frechheit ist das”.
“Übrigens, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Meyer”.
“Angenehm, Schulze”.
Wer bei dem obigen, verkürzt dargestellten Dialog ein warmes Gefühl im Bauch spürt und sich am liebsten auch gleich vorstellen möchte, der ist vor allem eines: ein Deutscher.
Göthe sagte schon so schön “Mit dem Wissen wächst der Zweifel”. Und seinen Kindeskindern gereicht das als Mantra. Der Zweifel nährt die Kritik, womit Nörgeln im Allgemeinen, im Speziellen und über alles und jedes zum Selbstverständnis wird. Dabei ist es oft gar nicht so gemeint. Es dient vor allem dazu, eine gemeinsame Basis zu finden, eine Verbindung zwischen zwei Fremden. Du genauso entrüstet wie ich? Klasse, wir Freunde.
Herr Johnson macht das ähnlich. Nur geht es bei ihm über den Pluspol: das gemeinsame Feiern des absolut greatest Day im Life und die Gewissheit, man sei noch nie sowas von fine gewesen. Helau in allen Gassen, da sind die imaginären Pom Poms immer im Anschlag.
Herr Li schlägt ganz andere Töne an. Und zwar wörtlich. Man sollte sich in seiner Gegenwart mit allzu deutschen Beschnüffelungen zurückhalten. Herrn Li irritieren diese, denn er ist es nicht unbedingt gewohnt, sich Fremde durchs Meckern zu Freunden zu machen. Insbesondere wenn man sich in seinem Land aufhält, nimmt er um sich greifende Kritik möglicherweise sogar persönlich.
Für ihn gibt es dagegen zwei sehr etablierte Verbrüderungs-Rituale. Diese bedeuten dem durchschnittlichen Westler einerseits Kopf- und andererseits Bauchschmerzen. Obwohl keines der beiden auch nur im Geringsten etwas mit Kung Fu zu tun hat.
Variante 1 ist der 白酒 bzw. Báijiǔ. Wahlweise auch Sagrotan, aber das ist subjektiv. Das Getreide-Schnaps Derivat kommt aus derselben benebelten Ecke wie Korn, Obstler und Vodka. In China ist es DAS Getränk schlechthin. Es gibt den Baijiu in vielen Varianten, sein Alkoholgehalt pendelt je Marke um 55%, sein Preis zwischen Gut und Böse. Und er hat das Wort ‘Ganbei’ geprägt, das viele Ausländer als ‘Prost’ missverstehen. Dabei steht ‘gan’ für ‘machen’ und ‘bei’ für ‘Norden’. “Nach Norden machen” beschreibt in diesem Fall den Glasboden und heisst also “auf Ex”.
Randnotiz: Bitte keinem Chinesen mit ‘Ganbei’ zuprosten und dann nur vorsichtig anschlürfen. Es sorgt für wenig Gegenliebe, wenn dieser den Kopf aus dem Nacken nimmt und feststellt, dass er als einziger sein Glas geleert hat. Trinken ist eine ernste Angelegenheit und vor allem mit traditionell eingestellten Chinesen eng mit Ehre verbunden.
Im Falle von Baijiu ist Ganbei jedoch Programm. Und zwar, bis einer der Teilnehmer die Tischkante von unten sieht. Da darf man sich wieder jung fühlen und an die Trinkspiele der Jugend erinnern. Tags darauf fühlt man sich hingegen meist deutlich gealtert.
Für Baijiu ist wenig Kommunikation vonnöten. Herr Li grinst und lacht und erzählt so vor sich hin, da muss Herr Meyer einfach nur fröhlich gackern (gefasstes Lachen ist nach dem dritten Glas passé) und die einzig zu befolgende Regel beachten: Das Glas darf niemals leer sein, solange die Flasche noch etwas hergibt und eben beide noch die Oberseite besagten Tisches beäugen können. Hilfsmittel erlaubt.
Variante zwei geht auch in den Kopf, aber weniger frontal, sondern mehr von der Seite. Und zwar von beiden. Ergo Stereo. Vorher jedoch geht sie in den Magen und zwar als Ziehen. Hier handelt es sich um die verbreitetste chinesische Freizeitbeschäftigung: dem Karaoke-singen. (wird gerne auch mit Variante 1 kombiniert, was zu unvorhersehbaren Ergebnissen führt)
Karaoke ist ein japanisches Wort. Und da Herr Li und Herr Nakamura nicht die dicksten Kumpel der Welt sind, heisst die Schose mit dem Mikro hier zu Lande KTV, also Krakeel-Fernsehen. Und das KTV entscheidet über so manch millionenschweren Business-Deal und manch soziale Akzeptanz. Reihenfolge im Übrigen oftmals umgekehrt.
Da dem so ist, gibt es in einer Stadt wie Peking hunderte dieser Einrichtungen. Manche von ihnen erreichen die Größe spanischer Ferienhotels, ähneln dabei aber eher dem Adlon in Berlin. Stockwerke über Stockwerke, ausgekleidet mit Marmor, Samt, ausladenden Blumen-Bouquets und glänzenden Metallen erinnern in der Tat eher an hochsternige Luxus-Unterkünfte. Hier gibt es Räume für Gruppen von 4 bis 40 Personen und ihre Anzahl kann nur geschätzt werden. Nicht selten allein auf einem Stockwerk bis zu 50. Das Buffet ist inklusive, die Bedienung kommt auf Knopfdruck angeschwebt und versorgt die muntere im U sitzende Schar mit allem, was den Spass befeuert.
Der Herr Mayer kennt Karaoke meist nur vom Hörensagen oder aus alptraumatischen Animations-Abenden diverser Urlaube. Mayer Junior ist hier schon etwas besser dran. Für ihn gibt es Singstar auf der Playstation, also zumindest schon einmal eine Annäherung an die Realität. Unterm Strich aber haben beide so gut wie keine Erfahrung mit dieser Art der Unterhaltung, und als Europäer stehen sie dieser ohnehin äusserst kritisch gegenüber. Kulturell wurde ihnen die Zurückhaltung in die Wiege gelegt. Nicht laut sein oder störend aus der Masse heraustreten und als Deutsche vor allem: nichts tun, das man nicht zumindest semiprofessionell beherrscht. Das blamiert vermeintlich.
Im Lande Li öffnet ein hinter sich gebrachter Abend mit Dur und Moll aber oftmals Türen und Tore, von deren Existenz man vorher nicht einmal etwas ahnte. Herr Li sieht das so: Du Dich genauso blamieren wie ich? Klasse, wir Freunde. Währenddessen steht sein deutsches Gegenüber kurz vor dem akuten Magendurchbruch, weil nur noch 2 Songs auf der Liste stehen, bevor ‘Hey Jude’ dran ist, was ihm zugedacht war. Und da heisst es gleich in der ersten Zeile “…don’t make it bad. Take a sad song and make it better…”.
Es gibt natürlich eine Skip-Taste und manch ein Kandidat glaubt, dass er sich mit “Danke, nein, ich kann nicht singen” aus der Affäre ziehen kann. Hier sei einmal folgendes angemerkt: Herr Li deutet das als untrüglichen Hinweis, der betreffende Hellhäuter wäre derart begabt, dass er die anderen Anwesenden nicht mit seiner vorzüglichen Kunst beschämen möchte. Dieses wiederum steigert seine Neugier und damit das Drängen. Man muss schon vehement und wiederholt ablehnen, damit der Kelch an einem vorüberzieht. “Ich kann wirklich, wirklich, wirklich nicht singen. Gar nicht.”
Der mitdenkende Leser merkt an diesem Punkt sicherlich bereits: mitkommen und nicht singen ist unhöflich. Dann lieber weg bleiben. Das allerdings ist auch unhöflich. Über kurz oder lang sollte man sich also besser den lokal-kulturellen Gegebenheiten fügen und zum Schallempfänger der guten Laune greifen. Denn eines ist klar: Der Tonverweigerer sieht sich ansonsten eines gesellschaftlichen Status gegenüber, der dem eines Rundenschmarotzers in deutschen Bierzelten gleicht. Und damit wäre das Experiment Integration kläglich gescheitert.
Wer nun grübelt, wie man einen 3-5 stündigen KTV Abend überlebt, dem sei gesagt, dass er für gewöhnlich rasend schnell vorüber zieht und auch die größten Angsthasen fröhlich trällern lässt, sobald sie die erste wackelige Tontaufe hinter sich haben.
Zudem merkt man sehr schnell, dass es nicht aufs richtig singen ankommt, sondern vielmehr aufs richtig versuchen. Und wer das gewagt hat, ruft nicht selten am Ende “Ds machnma ball ma wiedda!”. Danach torkelt man ins Taxi, um sich dem verzweifelten Kampf der Adress-Übermittlung an den Fahrer zu stellen.
Baiju und KTV. Da steckt Musik drin.