Niemand hat die Absicht…

November 9th, 2009

Ulbricht war ein oller Lügner, aber das ist ja kein Geheimnis. 25 Jahre später, am 9. November 1989 wurde seine Lüge dann gottlob dem Boden gleich gemacht.

Bundesarchiv_Bild_183-1989-1109-030,_Berlin,_Schabowski_auf_PressekonferenzAls an dem Tag gegen 19:00 Uhr in Ost-Berlin diese folgenschwere Pressekonferenz stattfand, war ich grad in der Schule und wusste von nichts. Für mich war es ein normaler Vormittag im US-Bundesstaat Illinois. Von dem Ereignis, das den Kalten Krieg beendete, habe ich erst am Abend erfahren. Meine Gastmutter kam ins Zimmer und meinte, in den Nachrichten hätten sie gerade den Fall der Berliner Mauer verkündet.

Ich weiss noch ganz genau, was mir damals durch den Kopf ging: “Ja, klar, sicher doch – die Amis verstehen aber auch gar nichts.” Daran, dass die Meldung stimmen könnte, habe ich keinen Gedanken verschwendet. Stattdessen musste ich mich erst einmal gehörig darüber aufregen, wie wenig man dort von Geschichte und Geografie verstand. Wenn man es täte, käme man niemals auf solch dumme Schlagzeilen.

The Berlin wall is openAls ich dann die Fotos von den Menschen sah, die oben auf dem Bollwerk standen und feierten, war ich schlicht fassungslos. Diese Bilder haben noch heute Symbolcharakter. Aber zu der Zeit waren sie mit gesundem Menschenverstand nicht zu begreifen. Nicht, wenn man ein Leben lang mit einer der seltsamsten Grenzen aufwächst, die Menschen je gebaut haben. Natürlich habe ich immer die Hoffnung gehabt, dass sie eines Tages verschwinden würde, aber genau so habe ich gehofft, dass wir irgendwann wie Captain Future mit schwebenden Autos durch die Gegend fliegen. Angesichts von Feinstaub-Debatte und Abwrackprämie sehen wir ja, wie realistisch das ist.

Zu der Zeit der Grenzöffnung wäre ich damals gerne in Deutschland gewesen, um das WM-Gefühl aus der Nähe zu erleben. Warum musste ich auch ausgerechnet in dem entscheidenden Jahr weg sein? Das alles aus der Ferne zu betrachten hatte dann aber einen äussert interessanten Nebeneffekt:

In Zeiten vor Handy und Internet war die Hauptinformationsquelle das gedruckte Wort. Und das musste seinen Weg erstmal über den großen Teich finden. Mir standen also neben den amerikanischen Nachrichtenbeiträgen im Fernsehen hauptsächlich wochenalte Magazinbeiträge aus Deutschland zur Verfügung. Und private Briefe. All diese Quellen haben aber freilich vor allem eine Charakteristik: Sie fassen die Dinge recherchiert zusammen und stellen sie in einen Gesamtzusammenhang, statt die Meldungen wie heute im Netz rasend schnell und ungefiltert durchzureichen. Ich konnte die Geschehnisse also mit internationalen Augen sehen und die Gesamtheit betrachten, ohne mich zu stark in Details zu verlieren.

Das Schicksal muss sich heimlich in Fäustchen schmunzeln, dass es mich am 20. Jahrestag des Mauerfalls nun wieder ins Ausland versetzt. Wieder kann ich die nationalen Gefühlsregungen nicht live miterleben, und wieder bekomme ich internationale Berichterstattungen und Sichtweisen serviert, wenngleich ich per Internet nun etwas dichter am Geschehen sein kann.

Und doch: dieses Mal weiss ich es zu schätzen. 1989 war ich im Land von Bush Senior, der gerade erst von Ronald Reagan das Oval office übernommen hatte. Amerika hatte zwar zum Fall der Mauer nichts beigetragen, feierte dieses Ereignis jedoch als Sieg der westlichen Mächte über Russland und den Kommunismus. Ist es da nicht geradezu ein Glücksfall, das Jubiläum auf der anderen Seite der Weltkugel in einem von kommunistischen Kräften geformten Staat zu erleben?

The Berlin wallAber bezeichnenderweise gibt es kaum etwas zu erleben. Wir können davon ausgehen, dass die Regierung in Peking ihre eigene Meinung zu dem Fall der Mauer hat. Der fand immerhin knapp einen Monat nach den Studentenunruhen auf dem Tian’anmen Platz statt. Doch wie so vieles, was für den Kommunismus eher unangenehm ist, wird es ausgeschwiegen, mit großer Wahrscheinlichkeit noch für recht lange.

Die “China Daily” berichtet heute auf ihrer Website zwar über die 20 Jahrfeier, jedoch nur auf der englischen Version der Homepage. Die auf chinesisch geschriebene erwähnt sie mit keinem Wort und berichtet stattdessen als Aufmacher von der Ausstellung der neuesten militärischen Errungenschaften auf dem “internationalen Forum der Air Force für Frieden und Entwicklung” in Shahe. Am Jahrestag des friedlichen Endes eines Krieges militärische Stärke zu zeigen ist nicht unbedingt taktvoll, aber der Westen ist nun einmal weit weg.

In vielerlei Hinsicht ist China Deutschland dennoch ähnlicher als wir denken, nicht nur weil beide in diesem Jahr 60 wurden. Das Reich der Mitte scheint mir oft ein direkter Verwandter der DDR zu sein. Die nationalen Symboliken und Ausgestaltung der Regierungsgebäude haben viel Ähnlichkeit mit denen der DDR. Die Denkweisen umso mehr. Sicher, der clevere Leser hält mir jetzt vor, dass immerhin beide von Mütterchen Russland auf ihren Weg gebracht wurden. Trotzdem ist es immer wieder überraschend, wenn man gleichzeitig so viele deutlich amerikanisch beeinflusste Spuren von fest etabliertem Kapitalismus findet.

Das ist ein zwiespältiger Zustand, den die DDR nur in Ansätzen und zumeist unter vorgehaltener Hand erlebt hat. Und es ist ein Zustand, der durch die Gegensätzlichkeit der Systeme kaum von Dauer sein kann. Nächste Woche wird Präsident Obama diesem Land seinen Erstbesuch abstatten. Anders als im Kalten Krieg sind die Großmächte des frühen 21. Jahrhunderts wirtschaftlich eng verstrickt. Und dadurch aufeinander angewiesen. Die Elektronik wird den folgenden Generationen schliesslich zu einer selbstbestimmteren Informationsbeschaffung verhelfen und die Sicht auf die Welt möglicherweise ändern.

Die Berliner Mauer ist in meinem chinesischen Bekanntenkreis interessanterweise zwar ein Begriff, aber man weiss nicht so genau, was sie war und was sie bedeutete. Manch einer denkt, sie sei kaum länger als eine durchschnittliche Zimmerwand gewesen. Dass sie ein Volk durchtrennte und ihr Fall das Mächteverhältnis der Welt veränderte ist nicht unbedingt Allgemeinwissen. Da darf man frohes Rätselraten anstimmen: ist das der kommunistischen Erziehung zuzuschreiben oder schlicht der Tatsache, dass Deutschland eben doch einfach zu weit weg ist?

The Chinese wallIch denke nicht, dass der durchschnittliche Herr Johnson viel mehr zu dem Thema weiss, als ein Herr Li. Herr Li hat immerhin seine eigene Mauer. Und die steht sogar seit 3.000 Jahren, obwohl sie nur durch Klebe-Reis zusammengehalten wird. So richtig kennt Herr Meier den Grund für das Klinkerwerk ja auch nicht. Und Herr Johnson hält es gemeinhin einfach für ein tolles Foto-Motiv. Mit seiner von westlichen Alliierten geprägten Erziehung hat das aber sicher nicht unbedingt viel zu tun.

Wer weiss, vielleicht fällt auch irgendwann die Mauer im Kopf zwischen den West- und Ostmächten der heutigen Welt. Mein bei Dresden geborener Kollege Klaus und ich haben jedenfalls heute früh einen bedeutungsschweren Handschlag des grenzüberschreitenden Verständnisses ausgetauscht. Als Ausdruck von Frieden, Freude und Nudelsuppe und unter Aufsicht von chinesischen, taiwanesischen und südafrikanischen, apartheits-geprägten Kollegen. Mahlzeit zum Kultursalat!

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