Platonisches zum Jubiläum

Oktober 13th, 2009

SokratesIch weiß, dass ich nichts weiß.

Sokrates, Du alter Ado-Goldkantenträger! Knappe zweieinhalbtausend Jahre sind seit Deines grübelfundierten Ausrufs vergangen. Das Denken und Werten eines ganzen Kontinentes hast Du auf diese Weise in Grundfesten erschüttert, neu ausgerichtet und musstest dafür schließlich in die ewigen Olivenfelder gehen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass derart Tiefgreifendes ausgerechnet vom platonischen Streber selben Names weitergetragen wurde, weil der Herr Philosoph nun einmal schreibfaul war. Oder er wusste, dass er auch nicht wusste, wie man schreibt. Nunja, man weiß es nicht.

Die Erkenntnis der wissensbehafteten Nullrunde schickt sich jedenfalls in diesem Moment an, einen weiteren Kontinent für sich einzunehmen. Wenden wir uns nun also voller Spannung dem dafür Anlass gebenden Grund zu:

Wir schreiben den 13. Oktober. An und für sich jetzt kein Grund, in hochtrabende philosophische Bekenntnisse auszubrechen, wäre da nicht der kleine Umstand, dass es heute genau 6 Monate her sind, seit ich meinen Blogeintrag zum Halbjährigen geschrieben habe. Da wir heuer also folgerichtig den ersten Jahrestag begehen (und zwar um genau 12:55 Uhr Ortszeit, bzw. 06:55 Uhr MEZ), ist es an der Zeit für eine Momentaufnahme, ein Fazit und einen Blick in die Zukunft.

Die auf alle drei Teile passende Antwort bringt uns zurück zu Hellas’ Sohn. Wie anmaßend wäre es zu behaupten, nach so kurzer Zeit etwas über das Leben in der Fremde wissen zu wollen? Sicher, zwölf Monate sind mehr als die ein oder zwei Urlaubswochen mancher Besucher. In dieser Zeit kann man auch bereits entfernt von Einleben sprechen. Aber wirklich etwas wissen?

ChinaIch bin weder Kulturjournalist, noch Fotoreporter, und habe noch immer viel zu wenig Berührung mit dem ‘wahren’ China gehabt. Dem China, das weniger Ähnlichkeit mit Disneyworld oder Chicago hat. Dem China, in dem man auch nicht das kleinste bisschen Englisch spricht, und in dem Kaffee und Sandwich quasi Unbekannte sind. Dieses China läge nicht einmal unglaublich weit weg, sondern begönne bereits dort, wo man sich noch als Beijing zugehörig bezeichnen würde – nur wenige Kilometer vom jetzigen Schreibort aus entfernt. Ich weiß also, dass ich nicht weiß wie es ist, das wahre China.

Wie kommt es eigentlich, dass Orte, die sehr nah sind, doch so weit weg erscheinen, dass man niemals dort war?

Um das nachzuvollziehen, muss ein jeder nur einmal vor seine eigene Tür treten. Wer war denn schon oft in Deutschland Urlaub machen, hat alle Sehenswürdigkeiten in der Umgebung seiner Wohnung gesehen? Wir Menschen neigen doch allzu häufig dazu, Fernes zu begehren. In Australien muss man gewesen sein, in Tokyo und Hong Kong. Was für Länder, was für Menschen!
Aber Schloss Neuschwanstein? Schwarzwald? Fleetrundfahrt oder auf den Michel? Nein, das könnte man ja jeden Tag haben. Könnte. Tut man nur nie. Und wen würde man dort treffen, wenn man doch hinführe? Menschen aus Sydney, Tokyo und Hong Kong. Schau an, die Ferne läge so nah…

Für die dort anzutreffenden Touristen ist es ein Traum. Einmal Deutschland, das grüne, das wohlhabende, ordentliche und saubere. Das mit der guten Luft und dem tollen Bier. Man müsste also nur um die Ecke und hätte die Leute all dieser weit entlegenen Ziele vor der Nase. Aber wegen der Menschen würde man wahrscheinlich gar nicht die zwei Wochen Asien oder zwei Monate Australien buchen. Sondern wegen der ‘coolen Vibes’ und dem ‘einfach irren Lebensgefühl und so’. Klar, wenn man mal vierzehn Tage frei hat und was erleben will, dann macht man alles zu einem echten Abenteuer und damit zu einem besonderen Lebensgefühl, keine Frage. Stichwort: ‘Wahrnehmung’.

Zurück in den eigenen vier Wänden sieht es dann schon wieder eher mau aus. Der Tatendrang weicht dem Alltag und der Gewissheit man ‘könnte ja jederzeit’. Das ist wie mit dem “Ich hör morgen auf zu rauchen”, aber das ist eine andere Geschichte.

Nach diesem kurzen Exkurs in die Rasenseitenpsychologie versteht der geneigte Leser vielleicht, weshalb manches, das nicht sehr weit weg ist, dennoch ungesehen ist. Der im Arbeitsalltag befindliche Mensch hat andere Prioritäten als der Urlauber und klappert die Sehenswürdigkeiten nicht am Fliessband ab. Ergo habe ich nach einem Jahr zwar manches gesehen, aber sehr vieles eben auch noch nicht. Sehr vieles. Aber ich könnte ja jederzeit.

Gut zu wissenKulturelle Eindrücke sammelt man jedoch eh viel besser abseits der Massen und der in Reiseführern festgehaltenen ‘Geheimtipps’. Herr und Frau Li beim Einkaufen, im Auto oder der Bahn, im Restaurant oder bei den Bewegungsübungen im Park. Das sind ein paar der Dinge, die eine Momentaufnahme spannend gestalten. Wir aus dem Westen haben ja so unsere vorgefestigten Meinungen über die Chinesen. So richtig wissen wir eigentlich nichts, weil zu wenige, die wir kennen je da waren. Und wenn dann nur als Touristen. Aber trotzdem ist es ganz klar, wie die Menschen da drüben sein müssen. Man liest schliesslich genug in den Nachrichten.

Und so mischen wir eine gute Portion politische Verdrossenheit in die Vorstellung davon, wie ein Volk denkt. Oder eine Kultur im Allgemeinen. Letztlich läuft das auf eine Interpretation hinaus. Aus dem Deutsch- oder Kunstunterricht wissen wir aber noch, wie weit neben der Realität man damit landen kann, auch wenn es noch so plausibel zu sein scheint.

Und weil man in jedem Moment des Lebens nur an einem Platz sein kann, ich auf vielen Plätzen aber noch gar nicht gewesen bin, fällt meine Momentaufnahme in sokratisches Territorium

Ein Frischling am ersten Tag“Du wirst zunehmen, China an einem Tag toll finden und am nächsten zum Teufel wünschen”. Das war der erste Rat aus dem Kollegenkreis, als ich vor 12 Monaten hier ankam. Während ersteres offenbar glücklicherweise nicht für jeden gilt, stimmt zweiteres allerdings tatsächlich. Aber zu den inneren Konflikten, die das Leben eines Expats begleiten ist bereits ein eigener Eintrag für diesen Blog in Arbeit, der ein Jahr Entstehungszeit hinter sich hat. Nur so viel: Die Verwirrung ist ein konstanter Teil des Ganzen. Das Hin und Her somit ein Prozess von Dauer, vor dessen Ende man nur den alten Griechen als Antwortpaten auf die Bühne schieben kann.

Der Blick nach vorn ist spannend. Und er fällt sehr leicht. Vor allem, weil das Land inspiriert. Herr Li schaut für gewöhnlich mit mehr Optimismus auf den druckfrischen Kalender 2010, als Herr Meier. Man baut hoch hinaus. Dort, wo auch die Träume hin streben. Wir sind die Kinder der Macht, der neue Nabel der Welt, packt alle mit an. Herr Li bastelt sich die kommende Jahreszahl als glückbringende 8, indem er die 2 von vorne von der 10 hinten abzieht. Immerhin wird es das Jahr des Tigers sein. Und der ist stetig auf dem Sprung.
Herr Meier dagegen bildet die Quersumme aus 2010 und ruft “in 3-Teufelsnamen, das kann nicht gut gehen”. Und seine Häuser haben kaum mehr als ein Stockwerk, dessen Giebelausrichtung und Dachfarbe per Gesetz festgeschrieben ist. 2010 ist für ihn sehr un-tigerlich und steht höchstens für eine Agenda, die ausser ihm gefälligst niemand anpackt. Und wenn, dann vorher Hände waschen.

logo-beijing-2008Ich halte es zurzeit mit der 8, obwohl mein zentraleuropäisches Unterbewusstsein zur 3 neigt. Aber ich lasse mich lieber begeistern als entmutigen. Und China begeistert in der Tat, wenn auch nicht jeden Tag.

Die Neugier auf dieses Land ist auch nach einem Jahr ungebrochen. Wo das hinführt? Das kann uns nur der alte Grieche sagen.

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