Was man hat, das hat man. Nicht.

September 21st, 2009

Auf einem unscheinbaren Parkplatz im frühen Februar 1991:
Herr Köhler lugt über den Rand seiner Brille. “In Zukunft etwas weniger forsch” sagt er bestimmt, aber nicht unfreundlich. Um die Augen zeigt sich der Hauch eines Lächelns, das den Panzer der Authorität jedoch nicht völlig zu durchbrechen vermag. Er kritzelt seine Unterschrift auf einen rosafarbenen Bogen Papier und reicht ihn nach vorne. “Dreimal falten” weist er noch an, bevor er die Tür des weissen Golf 2 öffnet und in die kühle Winterluft hinaustritt. Wenig später ist er um die nächste delmenhorster Strassenecke entschwunden.

Da war er also, der Lappen der Freiheit, das Ziel spätjugendlicher Strebsamkeit: der Führerschein Klasse 3! Von gelben Postbombern bis zu süddeutschen Vorzeigekarossen hat er mich begleitet, die ein oder andere Beule ermöglicht und dem Staat nur Gutes getan. Zumindest was Steuern und Gebühren für Parken mit oder ohne Ticket betrifft.
Die Welt schien greifbar mit ihm. Man konnte fahren wann und wohin es einem beliebte. Erst Deutschland, dann Nord- und Südeuropa, USA und sogar England, obwohl da alles etwas verdreht ist.
Führerschein Klasse 3 Aus der EG wurde die EU. Es kam der internationale Führerschein dazu, und dann wurde alles eine Scheckkarte nach amerikanischen Prinzip. Man ließ die Nummerierung der Klassen fallen und wandte sich einem undurchdringlichen Dickicht an Buchstanbenkombinationen zu. Die Welt wuchs an manchen Stellen zusammen und teilte sich an anderen, aber der rosa Bogen blieb was er war: eine überall gern gesehene Erlaubnis zur Kfz-Fortbewegung. Kein Grund also, das Format jemals einer Internationalisierung zu unterziehen, zu verbuchstabieren und/oder von Schein auf Karte zu verlegen.
Bis sein Besitzer eines Tages etwas ganz anderes verlegte – und zwar den Wohnsitz nach China.

Der mitdenkende Leser meint an dieser Stelle wahrscheinlich ‘hätte er mal doch das Format gewechselt’.
Das ist an und für sich keine schlechte Idee – immerhin klassifiziert das Land China als Nation und damit als Teil der Inter-Nationen. Aber wer hier schon hin und wieder einen Artikel gelesen hat, weiß dass man in China mit logischen Schlussfolgerungen etwas vorsichtig sein muss. Hier gilt, wie sollte es auch anders sein, der chinesische Führerschein und nur der chinesische Führerschein und sonst nix und zwar gar nix.

Die EU hingegen erlaubt chinesischen Staatsbürgern das Steuern eines Kraftfahrzeugs direkt nach Ankunft bis zu einer Dauer von 6 Monaten Aufenthalt, bevor eine EU-Fahrelaubnis erstanden werden muss. Ich möchte behaupten, dass wer immer das beschlossen hat, niemals Fussgänger auf den roten Strassen der Eitelkeiten sein durfte. Ich bitte die folgende Verallgemeinerung zu entschuldigen, aber Herrn Li unvorbereitet auf ein Strassenverkehrssystem loszulassen, das auf Um- und Rücksicht basiert, gewinnt nicht den Preis der weltbesten Idee.

Herr Li wird an der nächsten roten Ampel mit 60/h rechts abbiegen und dabei fröhlich auf sein Handy eintippen. Selbst wenn er die kreuzenden Fußgänger aus dem Augenwinkel erspähen sollte, werden sie seinen Gasfuss nicht einmal zum leichten Luften animieren. Der EU-Fussgänger aber ist es gewohnt, spontan bei Grün den Marsch über die Strasse zu beginnen, und er wird die heranrasende Gleichgültigkeit nicht einmal erahnen, bevor ihn schlagartig und recht unsaft der Kulturschock trifft.
Dem vorausschauenden weißen Ritter der Bremsfähigkeit aber soll es verwehrt bleiben, sich im Land der Hupe hinter den Airbag zu setzen? Sollte Herrn Köhlers Urteilsvermögen in Zweifel gestellt werden müssen? Wo kommen wir denn da hin? Nun, zunächst einmal nur bis zum Taxistand.

Anmeldewisch

Dass das auf die Dauer nicht weit genug ist, überrascht sicher niemanden. Es bleibt also nur eines und zwar eine neuerliche Prüfung ablegen. Wieder einmal einen Haufen Passbilder anfertigen (die Reste vom letzten VISA-Drama haben selbstverständlich das falsche Format) und gegen ein Buch eintauschen: Driver License Study Guide and Handbook. Ein 120 A4-Seiten starkes Regelwerk mit rund 1.000 dicht gedrängten Fragen in fröhlichem 11-Punkt New Courier Schriftschnitt. Und es gibt doch tatsächlich noch etwas zu lernen.

Da wird geraten, nach einer Bergabfahrt nicht sofort in ein offenes Gewässer zu fahren, damit die Bremsscheiben nicht bersten. Das Anlegen eines Gurtes empfiehlt sich nur dann, wenn das Fahrzeug welche haben sollte, und man weist ausdrücklich darauf hin, sich rasch hinter dem Lenkrad quer zu legen, wenn eine Frontalkollision unausweichlich ist. Das wär das Sicherste. Siehste, wusste ich gar nicht.


Auch dass man den Schalter für die Kraftstoffzufuhr zum Motor auf ‘aus’ drehen und das Triebwerk abstellen sollte, bevor man das in Flammen stehende Fahrzeug nach rechts zum Straßenrand hin verlässt war mir nicht ganz so klar. Wo dieser Zufuhrschalter zu lokalisieren ist, steht leider nicht in dem Buch.

Die Lektüre ist jedenfalls in der Tat unerwartet interessant. Vor allem, wenn sich direkt aufeinanderfolgende Fragen vollkommen widersprechen. Sie ist zudem in ganz speziellem Englisch geschrieben. Satzbau und Sinn sind oftmals derart verstellt und verdreht, dass der Inhalt nur mit Fantasie erkennbar ist. Teils sagen die Fragen sogar das Gegenteil des chinesischen Originals aus. Damit muss bewusst die falsche Antwort gewählt werden, um ein richtiges Ergebnis zu erhalten.

Ein Beispiel: “the driver allowed to make a u-turn where sign prohibits no u-turn”. Ein bunter Blumenstrauss möglicher Bedeutungen, wenn man weiss, dass hier sinnbestimmende Kleinigkeiten wie “is” oder “is not” fehlen und das “no” hinter “prohibits” nicht dort stehen dürfte. Die existierende deutsche Version des Buches ist, nebenbei gesagt, praktisch vollkommen unverständlich, weshalb man sich mit der englischen schon ganz gut zufrieden geben kann.
Hereinspaziert
Das Buch entpuppt sich als ein reines Spiel von Auswendiglernen und Wiedererkennen der sinnlosesten Fragen. Von derer es dummerweise ausgesprochen viele gibt. Stufe 2 auf der Schwierigkeitsskala: Die korrekte Antwort steht jeweils direkt am Beginn der Frage, was eine prüfgemäße Wissensüberprüfung praktisch unmöglich macht, weil man die Lösung ja schon vor der Frage kennt. Falls das noch nicht genug ist: von Aushändigung des Werkes bis zur Prüfung bleiben zehn Tage.

Aber Jammern hilft wenig und so hämmert man sich von früh bis spät die seltsamsten Verkehrsregeln in die Birne, die man je gehört hat.

Das Flughafenamt

Am Tag der Tage findet man sich dann früh morgens in einem Straßenverkehrsamt wieder, das aussen wie innen mehr Ähnlichkeit mit einem Flughafen als mit einer Behörde hat. Im Abflugterminal warten knapp 30 Check-in Schalter auf die diversen Anliegen der Fahrzeughalter oder solcher, die welche werden wollen. “Melden Sie sich an Schalter 1″ hatte es geheissen.
Dieser sei für Ausländsangelegenheiten bestimmt. Also schreitet man die Zahlen in absteigender Reihenfolge entlang. Schalter 5, 4, 3, Schalter 2, Wand. Hä? Moment, nochmal gucken. Tatsächlich. Bei Schalter 2 hörts auf. Also nochmal auf die andere Seite gerannt. Vielleicht ist die 1 ja hinter der 30. Logikprobleme und so, kennt man ja. Abgehetzt kommt man bei 30 an und dahinter ist: Wand.
Bin ich in Rom? Heiss ich Asterix?Flughhafenamt

Ortswechsel – Am Infoterminal: Man spricht kein Englisch, kann aber zumindest so weit denken, dass der nicht-Chinesisch-sprechende wohl ein Ausländer sein muss. “Yi hao?” (Nummer 1?). Jau, Du hast es geblickt, Frollein. Wo isse denn, die gute Eins? Da ein Erklären aufgrund von fehlender verbaler Schnittstelle sinnlos ist, machen wir den Gänsemarsch.

Am vorderen Ende der Wand hinter Schalter 2 steht ein kleines Schild. “Toilets” steht drauf.Unbeeindruckt schreitet sie in den sich dahinter öffnenden schmalen Gang. Soll ich der jetzt aufs Klo folgen und da meine praktische Prüfung ablegen oder was? Zögernd und mit größer werdendem Abstand gehe ich hinter der Reiseleiterin her, die dann zum Glück sowohl an nǚ, als auch an nán vorbeistöckelt. Und ganz hinten im Gang steht doch tatsächlich ein noch viel kleineres Schild und zeigt nach rechts in einen weiteren Durchgang: Foreign Services! Der Schalter 1.Zum Schalter 1
Diese Episode ist an sich schon schmunzelhaft genug, bekommt aber als i-Tüpfelchen noch die goldene Kichererbse aufgesetzt, wenn man weiss, dass “auf die Eins gehen” ein alter geflügelter chinesischer Begriff für den Gang aufs Klo ist. Wollen die einem jetzt damit sagen, dass man als Ausländer hier tief in gewissen Häufchen sitzt?

Zum Glück geht danach alles recht ordnungsgemäß vonstatten. In Horden von 30 Teilnehmern wird man in den Prüfungsraum gelotst, in dem man sich auf eine Stuhl/Tisch Kombination mit integriertem Bildschirm niederlässt. Ausser Chinesisch, Englisch, Deutsch und Französisch stehen noch eine ganze Reihe weiterer Sprachen zur Auswahl. Aber obwohl der Schuster bei seinen sprachlichen Leisten bleibt, bietet sich ihm ein anderes Bild als erwartet. “Die Fragen und Antworten in dem Lernbuch entsprechen genau denen in der Prüfung” hatte es geheissen. Während das für die Fragen glücklicherweise zum Großteil stimmte, sah es bei den Multiple-Choice Antworten in Teilen schon anders aus. Statt der jeweils zwei zur Verfügung stehenden aus dem Buch zeigte der Monitor jeweils 4 mögliche Lösungen pro Frage an. Jetzt galt es also auch noch zunächst die beiden unbekannten Antworten zu isolieren, bevor man sich an die offiziell als korrekt geltende erinnern musste. Ach, und vollkommen neue Fragen gab es auch.

Gottlob blieb ich fast verschont von der Prüf-Relativitätstheorie. Diese tückische temporäre Krankheit tritt mit Testbeginn ein und lässt vollkommen unsinnige Antworten plötzlich als relativ sinnvoll erscheinen. Nur bei zwei Fragen schickte sie sich an, meinen Geist zu verschleiern. Ich konnte sie jedoch erfolgreich abwehren.

Für den Test bleiben einem 60 Minuten, in denen man mindestens 90 der 100 Fragen korrekt beantworten muss. Macht also knapp über 30 Sekunden pro Frage. Es muss zusätzlich darauf geachtet werden, vor Ablauf dieser 60 Minuten auf den ‘End Test’ Button zu drücken, sonst hat man verloren und muss aussetzen. Wenn man diesen klickt, folgt in guter Günter Jauch Manier eine Überprüfung der Selbstsicherheit: ‘Do you really want to close this test session? You cannot change any answers after that and your test result will immediately be shown’. Da bekommt man schon mal feuchte Finger. Was, wenn man weniger als 90 Punkte hat? Tut sich unter dem Prüfthron ein gähnendes Loch auf, das dem Durchgefallenen einen Durchfall direkt in den Suhl der unwürdigen Seelen beschert? Tauchen zwei uniformierte Beamte im Türrahmen auf, die den ausländischen Abschaum unter höhnischem Gelächter von Herrn Li bis zum Flughafen begleiten?

Geschafft

Der Finger des Schicksals berührt zaghaft die linke Maustaste und wird in einem letzten Anflug von Willensstärke durchgedrückt. Auf die erleichternd frohe und beglückwünschende Botschaft, man hätte bestanden folgt ein lange vergessenes Schul-Gefühl. Man möchte sogleich mit dem Klassenheft nach Hause laufen und strahlend die rot eingekringelte Zensur vorzeigen. Den Computer aus seiner Verankerung zu reissen und unter den Arm zu klemmen erscheint mir dann jedoch weniger verlockend und so verlasse ich nur mit meinem Pass bewaffnet die hohen Hallen des Strassen-Konfuzius.

Epilog
Lizenz zum Hupen

Der chinesische Führerschein an sich hat mehr Ähnlichkeit mit der Mitgliedskarte des nachbarschaftlichen Videoladens als mit einem offiziellen Dokument. Ein laminiertes Stück Papier mit schief aufgeklebtem Foto, gerade so viel größer, dass er eben nicht in die Kartenschlitze der Brieftasche passt. Nur ein paar eingelassene Hologramme im verschweisten Angesicht der Plastikhülle deuten darauf hin, dass es sich um etwas handelt, das den Begriff ‘Zertifikat’ verdient. Das aufgedruckte ‘C1′ steht dafür, dass hiermit lediglich nichtkommerzielle PKWs gefahren werden dürfen. Das entspricht wohl in etwa den EU-Einteilungen, aber das war nach meiner Zeit.

Ein Sehtest ist in China nebenbei erwähnt keine Voraussetzung für die Zuteilung eines Führerscheins. Das erklärt auch, weshalb die Droschkenlenker praktisch keinen Adress-Zettel lesen können und an roten Ampeln erst kurz vor der Haltelinie schreckhaft mit Vollbremsung zum Stehen kommen. Aber man kann dem Volk ja nicht sein Statussymbol verwehren, nur weil dieses nicht weiter gucken als spucken kann.

Bleibt noch zu erwähnen, dass eine Fahrschule und eine praktische Prüfung deshalb ausgespart werden konnten, weil eben bereits eine deutsche Fahrerlaubnis vorlag. Hier ging es demnach nur darum, das chinesische Regelwerk zu vermitteln. Also Hupe an und durchgedrückt den rechten Fuß. Na dann geh mal jetzt über die Strasse, Her Li…

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