Samstags zu IKEA. Eine traumhafte Idee: Zank, Nerverei und Volksfest-Enge sind garantiert, ein leeres Portemonnaie nach Durchqueren der Markthalle zumindest äusserst wahrscheinlich. Ob man wirklich den Dreierpack Duftkerzen brauchte, weiss man zuhause beim Anblick des übrigen Wachsfigurenkabinetts nicht mehr. Mit der Grünpflanze und der Stehlampe ist es nicht anders.
Die hatte man eh eigentlich nur gekauft, weil man an dem streitenden Pärchen mit dem Geschirrproblem nicht vorbei kam. Einmal den Blick schweifen lassen und schon ist der Wagen halb voll.
Ein Samstag bei IKEA ist nichts für schwache Nerven, das weiß jeder. Und deshalb sind wir am Sonntag hingegangen.
Während man in Deutschland höchstens ein paar vereinzelten Inline-Skatern dabei zusehen kann, wie sie ihre Runden auf dem geschlossenen Parkplatz drehen, hat IKEA in Peking geöffnet. Wie alles andere auch – Ladenschluss am siebten Tag der Woche hat der Gesetzgeber einfach nicht vorgesehen. Sieben Tage lang bis 22:00 einkaufen, da kommt wirklich niemals Torschlusspanik und Hamsterkaufmanie auf, hat also klare Vorteile.
Der Nachteil ist freilich, dass sich der Shoppingsonntag beim Schweden nicht vom Samstag unterscheidet.
Nach Betreten der heiligen Hallen fühlt sich aber vor allem zunächst einmal der Geist vermöbelt. Nicht aufgrund der Massen an Menschen, sondern aufgrund der gruselig vertrauten Umgebung. Dabei heisst IKEA in China gar nicht IKEA, sondern Yi jia jia jü. Na klar, klingt ja auch ganz genau so…
“HEJ” schallt es einem per Plakat entgegen. Darunter gleich ein Anzeiger, der den Weg zum Small Land verrät. Das mit den lustigen bunten Bällen. Der kleine Herr Li möchte gerne von seinen Eltern abgeholt werden…
An der Treppe liegt der Katalog aus, mit den bekannten Kollegen Lack, Benno, Galant, Ektorp, Pax und dem ganzen Rest der Familie.
Wohnzimmer, Küchen, Arbeitsecken, Schlafzimmer – sie alle reihen sich in der gewohnten Reihenfolge aneinander. IKEA ist immer gleich und dürfte damit die großflächigste Inkarnation von Heimatgefühl in ganz China sein. Der Verstand hat so seine Probleme damit, denn obgleich Um-, Namensgebung und Kundenfülle derer daheim entspricht – es gibt doch Unterschiede.
Dort wo Karsten und Christina in Schnelsen über die Einbauhöhe von Ofen, Mikrowelle und Kühlschrank diskutieren, stehen Herr und Frau Li, Herrn Lis Cousin, Frau Lis Schwippschwägerin, deren Mutter und ihre drei Nachbar-Ehepaare vor eben jenem Ofen und gucken nur neugierig in dessen Röhre. Wofür man dieses kastige Stück Heizware einsetzen soll, ist ihnen schleierhaft. Fritieren kann er nicht, dünsten und kochen ebenso wenig. Für Fischbrühe ist er ungeeignet und ein Reistopf passt schon allein von der Höhe nicht hinein. Zum Aufwärmen von Reissuppe heizt er zu langsam auf, und man kann danach auch die Schale nicht mehr anfassen. Blödes Ding. Da hat Frau Li plötzlich einen Lösungsvorschlag: Man braucht den heissen Ofen wahrscheinlich für ausländische Gourmet-Gerichte wie Burger und Pizza. So falsch liegt sie damit zwar nicht, aber die Verständnisprobleme liegen hier tiefer, deshalb lassen wir sie besser stehen und schleichen uns weiter.
Wir kommen an einer am Gang platzierten Toilette vorbei und stutzen – die Schüssel ist mit einer Plexiglasscheibe abgedeckt. Auf dieser wird den Kunden mit dringendem Bedürfnis mitgeteilt, dass sich die tatsächlichen Toiletten neben dem Restaurant befinden. Wir rätseln, ob wohl tatsächlich schon Kunden auf die Idee gekommen sind, mitten im Gang und umringt von hunderten von Menschen große Geschäfte zu verrichten.
Eine Ecke dahinter liegt Herr Li Junior an der Schulter seiner Freundin und schläft. Im Bett. Redalen, für 1,299 RMB. Klein Lis Flamme schaut dabei gen Himmel und fragt sich wahrscheinlich, wie sie ihren Schnarch-Hahn dazu bewegen kann, den Begriff “‘Abholpreis” wörtlicher zu nehmen. Oder sie denkt an Babys, Schuhe oder Schmuck. Das weiss man nie so genau.
Schlafende Chinesen in schwedischen Betten, das sieht man hier jedenfalls alle paar Meter. Genau wie auf Sofa, Sessel und Stuhl sitzende. Sogar Küchentisch testende. Das klingt nicht ungewöhnlich, das machen die Europäer auch. Allerdings geben sich Europäer für gewöhnlich mit 2-5 Minuten Hinsetzen zufrieden und stehen dann respektvoll vom fremden Möbelstück wieder auf. Herr Li jedoch lässt seinem bislang unentdeckten Talent zum Stiftung Warentester freien Lauf. Fachmännisch beäugt er jedes Sitzmöbel, rutscht auf Armlehnen umher und nickt viel in sich hinein.
IKEA hat für viele Chinesen zwar nicht den Stand einer Luxusmarke, ist jedoch zumindest etwas für besser Betuchte. Der Europäer vergisst das schnell, ist der Inbus König für ihn doch eher als Ausstatter von Studentenbuden bekannt. Das Preisniveau am Binnenmarkt ist halt ein anderes. Und die Lebensweisen auch.
Herr Li hat deshalb auch keinen blassen Schimmer, was er da grad tut. Das sieht man an seiner Haltung, die sich in keinem der zu testenden Objekte entspannt. Und daran, dass er nur genau jene Teile inspiziert, die vor ihm ein anderer beäugt hat. Vorzugsweise ein Ausländer. Denn die müssen es ja wissen. Immerhin ist das hier deren Ausstattungswelt. Man sieht Herrn Li nur allzu deutlich an, dass er versucht, einen Lebensstil nachzuahmen, der nicht seiner ist. Und den er eigentlich auch gar nicht braucht. Er möchte aber nun einmal gerne ein Bild abgeben, das den Titel “Connaisseur” trägt.
Was einfach überhaupt nicht in dieses Bild passt, ist die hohe Anzahl Menschen falschen Alters. Herrn Lis Eltern stehen vor weissen Schrankwänden und sinnieren recht offensichtlich darüber, weshalb die Europäer wohl eine derart leicht verschmutzbare Farbe wählen. Aber sie sind ohnehin nicht hier, um Geld auszugeben. Vielmehr ist es für sie wie ein Museumsbesuch für seltsame westliche Gebräuche und Lebensweisen. Sie sehen so ratend aus wie Herr Meyer im 120qm Laden für grünen Tee in Wangfujing. Soviel Auswahl an Dingen, für die man keinen Bedarf hat und bei denen man die Unterschiede nicht versteht.
Am Ende der Markthalle, dort wo die Grenze zu den Selbstbedienungsregalen mit Schrankwänden liegt, steht ein Schild: “Wenn Sie ihre Einkäufe bis 18.00 tätigen, liefern wir Ihnen die Ware noch am selben Tag nach Hause”. Gut, das steht da natürlich nicht auf Deutsch, aber sinngemäß kommt es in etwa hin. Direkt unter dem Schild steht eine Dame mittleren Alters. Sie sieht wie eine Kundin aus, die auf ihren Mann oder auf Herrn Lis schwippverschwägerte Nichten-Tante wartet.
Im Vorbeigehen zischt sie den übrigen Kunden etwas zu. Schnell wird klar, dass es sich um einen Lieferservice handelt. Allerdings nicht den von IKEA. Hier stossen wir auf etwas, das es in den westlichen Möbelhäusern nicht gibt: Eine Fahrservice Mafia.
Und die geht so: Man klärt kurz, wie viele Einkäufe sich nach der Kassenspur auf wie vielen Wagen befinden werden und wohin die Reise gehen soll. Dann knallharte Preisverhandlung und bei Einigung wird auf der Gegenseite hektisch und konspirativ telefoniert. Wir konnten uns auf umgerechnet 8 Euro verständigen und das bei einem vollen Einkaufswagen und zwei großen Gorm Regalen. Im Taxi hätten wir damit arg Probleme gehabt. Madame Mafia war jedoch zuversichtlich-das sei kein Problem.
Ohnehin war sie sehr service-orientiert. Die Sachen mit aufs Kassenband packen, von dort wieder zurück in den Wagen und dann alles dem Fahrzeugmeister übergeben. Dieser teilt dann den Fahrer zu. Der kommt sogleich angelaufen, übernimmt das Schieben eines der Einkaufswagen und lädt dann fast alles alleine in einen kleinen Mini-Van, der fast direkt vor der Tür parkt. Er will nur noch kurz wissen, ob man Hilfe beim Aufbauen der Möbel brauche – das passende Werkzeug hätte er ebenfalls im Wagen, die Tour würde dann nur länger dauern. Brauchen wir nicht, wir sind Inbus-erfahren. Damit geht es umgehend auf den Weg nach Hause, wo er die Einkäufe auch noch tapfer und alleine vom Lieferwagen in die Eingangshalle schuftet.
Natürlich ist die Chause nicht so richtig legal. Wir hatten das zweifelhafte Vergnügen mit anzusehen, wie zwei Kolleginnen von Frau Mafia von Securitymännern abgeführt wurden. IKEA duldet keine Lieferkonkurrenz.
Dabei profitieren sie meiner Ansicht nach stark davon. Der Kunde weiss, dass er sich beim Shoppen nicht zurückhalten muss – er bekommt die Sachen umgehend und für schmales Geld inklusive Taxiservice nach Hause. Sogar aufbauen würden sie es noch. Das ist mal eine klassische Win-Win-Win Situation für Kunden, IKEA und Mafia.
Dass es sich um eine solche handelt, daran hatten wir keinen Zweifel. Zu schnell und organisiert war alles, zu un-chinesisch also, als dass es sich um einen kleinen zufälligen Nebenverdienst handeln könnte. Aber eine Mafia, die beim Sparen hilft, freundlich und zuvorkommend ist, die soll mir recht sein.
Herr Li hat den Service nicht gebraucht. Er hat nur eine Geschirr-Bürste mit kleinem Saugnapf am Fuss gekauft. Mit diesem kann man sie fest auf einer glatten Fläche fixieren. Er fand den Saugnippel einfach lustig. Dass dies ein Küchenartikel ist, hat er aber gar nicht mitbekommen und so steht die Bürste nun im Badezimmer neben dem Waschbecken. Herr Li wundert sich seit dem über die fehlende Ergonomie dieses europäischen Utensils zur Handpflege. Aber ein Connaisseur bewahrt Haltung.